Donnerstag, 13. August 2009

René Magritte - Das Reich der Lichter


Im Kunst-Unterricht stand einmal die Aufgabe, zu diesem Bild eine Geschichte zu schreiben, die das Bild interpretiert.
Hier ist meine Version:


Edward Hopper
Das Reich der Lichter
(07. April 2008)

Er geht langsam um den See herum, eine Hand in der Jackentasche. Fest umschließen seine Finger den kleinen Anhänger der Kette. Er geht und geht, sein Weg scheint kein Ende zu nehmen. Das Gras raschelt unter jedem seiner Schritte. Er blickt auf zu den beiden hell erleuchteten Fenstern des Hauses. Seine Augen wandern an der hellen Fassade mit den grünen Fensterläden entlang, einen Teil davon bedeckt ein großer Baum. Er erkennt ihn nur schemenhaft. Das Zwielicht ist unheimlich. Der Himmel strahlt und hier unten ist alles dunkel… Er nimmt das nur am Rande wahr. Vor dem Haus brennt eine einsame Laterne. Er blickt ins Wasser, saugt den Anblick der großartigen Spiegelungen der Lichter in sich auf, leicht verzerrt von den winzigen Wellen, die der Wind aus der Wasseroberfläche hervorruft. Er tritt näher an den Rand des Sees, stolpert dabei fast über einen großen Stein im Gras. Er flucht leise, steht nun jedoch direkt am Ufer. Er versinkt in dem großartigen Anblick dieser Spiegelungen und der auf dem leicht gekräuselten Wasser tanzenden Lichtflecken. Er umklammert den zerbrechlichen Anhänger noch fester, dann reißt er den Blick von der Wasseroberfläche los und widmet seine Aufmerksamkeit wieder dem Haus auf der gegenüberliegenden Seite.
Tausend Fragen schießen ihm durch den Kopf. Was würde er vorfinden, nachdem die schwere schwarze Holztür hinter ihm ins Schloss gefallen war? War sie überhaupt da? Geht es ihr gut?
Er nähert sich nun mit langsamen Schritten dem schlichten Gartentor, als sein Blick wieder zu den erleuchteten Fenstern hochfährt. Er erhascht eben noch den Blick auf eine Silhouette einer jungen Frau, die aufrecht am Fenster vorbei geht. Ihr langes Haar trägt sie offen. Für einen Moment schließt er, die Hand auf dem Knauf des Gartentors, die Augen und stellt sich die üppigen roten Wellen vor, die kraftvoll und glänzend über ihre Schultern fallen. Er hat es ihr so oft aus dem Gesicht gestrichen, bevor er ihre vollen, weichen Lippen geküsst hatte. Wie oft ist er mit den Fingern hindurchgeglitten, als sie neben ihm geschlafen hatte? Wie lange ist das nun alles her? Es müssen Monate sein! Und jetzt ist er wieder hier. Wie oft ist er damals den schmalen Kiesweg zu der Tür gegangen, hinter der sie sich nun verborgen hält? Wie oft ist sie ihm freudestrahlend entgegen gerannt, hat die Arme ausgebreitet und sich von ihm auffangen und durch die Luft wirbeln lassen? Wie oft hat sie ihm ‚schön, dass du da bist’ mit ihrer warmen wichen Stimme ins Ohr gehaucht?
Und nun ist er zurück. Zurück in dem Garten, in dem sie so oft gemeinsam gesessen, in den Himmel gesehen und die Wolken beobachtet hatten. Der Himmel… Er blickt hinauf durch das Blätterdach der Zweige über ihm in ein strahlendes Blau mit weißen Tupfen, mal größer, mal kleiner. Damals war das der Himmel über dem Paradies gewesen. Jetzt ist es ein leeres, trostloses blauen Tuch, gespannt über der Ruine aus den Trümmern einer längst vergangenen Liebe. Wie hält sie es nur aus, in dieser Ruine zu leben? Er würde es nicht ertragen. Sein Blick hängt noch immer am Himmel und er nimmt wieder nur nebensächlich wahr, wie ungewöhnlich hell und strahlend er ist. Fast wie ein warnendes Signal.
Die kleinen Kanten des Anhängers graben sich tief in das Fleisch seiner Hand, als er die Finger noch fester darum schließt. Das kleine, geteilte Herz war alles, was ihm von ihr geblieben war. Alles war nur noch ein Nebel der Erinnerung. Er sog die kühle Luft tief in seine Lungen ein. Sie hatte die Natur immer geliebt. Darum wohnte sie auch so. In einem schönen, älteren Haus mit vielen Bäumen drum herum. Plötzlich ärgerte es ihn, nicht mehr zu wissen, was es für ein Baum war, der sich da vor ihrem Haus in den Himmel streckte. Er wunderte sich, wie er jetzt an so etwas Banales denken konnte. Er zog die Hand mit dem Anhänger aus der Tasche und hielt ihn sich vor die Augen. Ihr Name war in kunstvoll geschwungenen Lettern darin eingraviert. Die andere Hälfte hat sie. Oder hatte sie sie? Er wusste es nicht. Wusste nicht, ob sie diese Erinnerung ihrer Liebe behalten hatte. Ihm schien es nicht sehr plausibel, doch er hoffte. Wie damals, in den ersten Wochen, als er gehofft hatte, sie würde zurück kehren. Es hatte gehofft, es wäre nur eine Phase, die wieder vergeht. Doch es war zu spät. Sie war nicht zurück gekehrt und er war nicht mehr glücklich geworden.
Er liebt sie noch immer wie am ersten Tag! Und sie?! Betrogen hatte sie ihn! Mit diesem Brecher von einem Mann. Ist er nun womöglich bei ihr? Sitzt sie nun mit ihm im Garten, teilt ein Bett mit ihm? Die Eifersucht kocht in ihm hoch, wie damals, als sie ihn wegen diesem dahergelaufenen Nichtsnutz verlassen hatte. Nach so langer Zeit des Glücks!
Was soll er sagen, wenn sie vor ihm steht? Sicher wird er keinen Ton herausbekommen! Doch er muss sie sehen! Er muss noch einmal in ihre grünen Augen sehen und ihr sagen, dass er sie liebt! Es gibt kein zurück! Er bewegt sich sicher und routiniert zur Tür. Seine andere Hand fährt nun in die Hosentasche und zieht einen Schlüssel heraus. Er passt! Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, das Schloss auswechseln zu lassen. Warum auch? Damals hatte er ihr schwören müssen, aus ihrem Leben zu verschwinden. Schwerenherzens hatte er ihr diesen letzten Wunsch erfüllt, doch seine Liebe konnte er nicht aus seinem Herzen brennen. Die Tür schwingt auf und er betritt den Flur. Er weiß, in welchem Zimmer sie sich befindet. Die erleuchteten Fenster im ersten Stock sind die des Badezimmers. Leise steigt er die Treppe mit dem reich verzierten Geländer hinauf. Er erreicht den Treppenabsatz und lauscht. Er hört das Geräusch von unablässig fließendem Wasser aus dem Badezimmer. Der Flur ist dunkel. Er schleicht über die Holzdielen und nach einigen Schritten, nur noch wenig von der Tür entfernt, tritt er in eine Pfütze. Er spürt feuchte Spritzer an seinen Hosenbeinen. Er kramt in seiner Hosentasche nach der kleinen Lasertaschenlampe an seinem Schlüsselbund und leuchtet. Das Wasser auf dem Boden kam aus dem Schlitz unter der Badezimmertür. Es war leicht rosa.
Geschockt steht er da. Aus dem Raum hinter der Tür dringt kein Laut außer der des fließenden Wassers. Irgendetwas stimmt hier nicht. Zögern legt er eine Hand auf die geschwungene Türklinke. Er wagt kaum zu atmen. Es scheint eine Ewigkeit zu dauern, bis er die Klinke mit genügend Kraft drückt, so dass sie nachgibt. Mit zitternden Knien schiebt er langsam die Tür auf. Das Licht im Badezimmer brennt noch. Sein Blick gleitet durch den Raum, der ihm nur halb zu Gesicht kommt, da er, um die Badewanne sehen zu können, erst die Tür schließen muss. Sein Blick bleibt an seinem eigenen Spiegelbild auf der Gegenüberliegenden Wandseite hängen. Sein Gesicht ist blass, die Augen starren verwirrt und ängstlich zurück. Er tritt ein paar Schritte auf sein Spiegelbild zu. Leises Platschen unter seinen Füßen. Dann fällt ihm das Wasser auf dem Boden wieder ein und seine Augen schnellen nach unten. Der gesamte Boden ist eine einzige Pfütze. Er bemerkt jetzt, dass er knöcheltief im Wasser steht. Ganz langsam, wie in Zeitlupe, dreht er sich in Richtung der Badewanne. Sein Mund öffnet sich zu einem stummen Schrei. In seinem Kopf rasen die Gedanken durcheinander. Gefühle brechen über ihm zusammen und er sinkt langsam auf die Knie. Sie liegt in der immer weiter überlaufenden Wanne. Die Augen geschlossen. Die Fliesen an der Rückwand sind mit roten Spritzern übersäht. Ihre Ellenbogen liegen auf dem kalten Rand der Wanne, die Hände hängen im Wasser. Aus der Innenseite der Unterarme quillt unablässig Blut, das sich mit dem warmen Wasser, das ihren völlig nackten Körper umgibt vermischt. Ihr Kopf liegt, leicht zur Seite geneigt, an den rückwärtigen Fliesen. Ihre Züge sind entspannt, fast glücklich. Glücklich? Warum? Weil sie sich selbst von ihrem Leiden befreit hat? Aber welches Leiden? Es begreift nicht.
Hilflos streckt er eine Hand aus, um ihren Arm zu berühren, überlegt es sich dann aber anders und lässt die Hand sinken. Er hört ein leises, metallisches Klingen und weiß, dass es der Anhänger mit der Kette ist, der ihm zwischen den Fingern entglitten ist und nun in den kleinen rosafarbenen Wellen untergeht. Für immer verloren in dem Blut seiner Liebe.
Ihr rotes Haar fällt über ihre Schulter, bedeckt Teile ihrer Brust, gleitet in glänzenden Wellen bis in das blutrote Wasser, wo es sich fast schwarz färbt.
Seine Brust zieht sich zusammen. Er kann nicht mehr denken. Wie in Trance steht er auf. Seine Jeans sind bis zu den Oberschenkeln mit Blutwasser getränkt. Er bemerkt es nicht. Mühsam und geblendet von Tränen stolpert er zur Tür. Er reißt sie auf und flieht. Den Flur entlang, die Treppen hinab, vorbei am Wohnzimmer, ohne einen Blick nach links oder rechts zu werfen und hinaus aus der Haustür.
An der frischen Luft werden seine Gedanken klarer. Langsam vervollständigt sich eine schreckliche Wahrheit in seinem Gehirn. Sie ist tot. Das schreckliche Bild ihrer zarten kleinen Gestalt, bedeckt von der roten Flüssigkeit des Lebens, hatte sich in seinem Kopf eingebrannt, würde ihn wohl nie mehr los lassen…
Ein kühler Wind umspielt sein tränennasses Gesicht und wirbelt wieder das Wasser des Sees auf. Die Bilder auf der Oberfläche wurden verzerrt, die Lichter teilen sich und fügen sich wieder zusammen. Sein Weg führt ihn zurück auf die andere Seite des Sees, begleitet von Gedanken, die er nicht denken wollte. Begleitet von Gefühlen, die er nicht fühlen wollte, die er nicht mehr fühlen durfte! Es war vorbei. Ihr Leben. Es war vorbei! Er konnte es nicht glauben. Wie konnte sie…? Er stolpert diesmal wirklich über den Stein, sucht nach Halt, greift ins Leere und bleibt auf allen Vieren auf dem Gras liegen. Er keucht leise und blickt auf zum Haus. Und während er so da hockt und auf die beiden erleuchteten Fenster starrt, fließen seine Tränen aus seinen Augen, wie ihr Blut aus ihren Adern. Die Zweige des großen Baumes wiegen sich leicht im Wind. Aus dem kleinen Waldstück um das Anwesen rauscht es. Eine leichte Gänsehaut kriecht über seine Arme und seinen Rücken. Er sieht auf zum Himmel, der noch immer so hell und warnend blau erstrahlt. Sein Blick wandert noch ein letztes Mal über die Fassade des Hauses, mit den teilweise geschlossenen grünen Fensterläden, die Bäume und zum Schluss den See. Die Spiegelungen. Die Beiden Fenster und die Laterne leuchten, verzerrt und immer wieder von kleinen Wellen unterbrochen. Ein Meisterwerk des Wassers. Der See… So ruhig und friedlich. Zu friedlich! Neben ihr war er das einzige, was noch in seinem Kopf war. Der Rest war ausgelöscht. Der See mit seinen Spiegelungen. Für immer das Reich der Lichter. Er dreht sich langsam um. Und dann läuft er. Fort von dem weißen Haus mit den grünen Fensterläden, von den erleuchteten Fenstern, hinter denen nie wieder Leben sein würde, von dem blauen Himmel darüber, von dem See, von dem Wäldchen.
Fort… In eine namenlose Zukunft…

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